Ralf Wagner
[3.11. 2005]

Die große Koalition sollte scheitern, bevor sie beginnt

zu Ist die Mehrheit wirklich gegen Reformen?
von Wulf Schmiese
in
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.10. 05

Ist die Mehrheit wirklich gegen Reformen? Natürlich ist sie das. Und so müssen sich auch die Wähler Fragen nach ihrem Zustand gefallen lassen.
Da hat Gerhard Schröder Neuwahlen erzwungen mit dem Argument, er fände in seiner Partei und in seiner Fraktion kein Vertrauen mehr für die Weiterführung von Reformen, was immer er auch darunter verstehen mochte. Kaum war er im Wahlkampf, rief er dazu auf, eben diese Partei zu wählen – um ihn zu wählen. Muß das keinen nachdenklich machen?
Von neuen Reformen war plötzlich keine Rede mehr. Ganz im Gegenteil. Und je mehr sich der Kanzler als Garant der Verhinderung weiterer Veränderungen präsentieren konnte, desto größer wurde die Wählerwanderung hin zur SPD. Spätestens mit dem Diskussion um die Flat Tax und die Kopfpauschale war dann auch dem souveränsten Souverän klar: „Hoppla, Privilegien im Steuer- und Sozialsystem, gegen welche sich jahrelang so schön wettern ließ, die habe ich ja selber! Und sozial gerecht ist doch schließlich das, was mir nützt!“. Das setzt sich nahtlos „links“ von der SPD fort. Wenn sogenannte Besserverdiener für weniger Steuern stimmen, sind sie angeblich nur eines: eigennützig. Wenn die Bezieher von Transfereinkommen, welche mittlerweile auf eine Mehrheit unter den Wählern zusteuern, für immer mehr Umverteilung stimmen, sind sie dann für mehr soziale Gerechtigkeit? Oder ist dieser Teil des Souveräns nicht etwa auch ein wenig eigennützig? Der ausgeprägte Wählerwunsch nach einer Großen Koalition ist daher wohl nicht anders zu interpretieren ist als der nach Reformen ohne persönliche Konsequenzen oder: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß.

Behauptungen, in Sachen notwendiger Veränderungen seien in diesem Land die Bürger weiter als die Politik und es gäbe weniger ein Erkenntnis-  als ein Umsetzungsproblem sind schlichtweg falsch. Mit einer großen Koalition werden wohl weitere vier Jahre vergehen, welche uns viele „Neujustierungen“ aber keine Änderungen bescheren werden - vor allem weil der Souverän es so will. Den größten Dienst könnte sie daher wohl leisten, wenn sie scheitert, bevor sie beginnt - und somit dem Wahlvolk die Illusion nimmt, es könne alles so bleiben wie es ist.

P.S. In dieser Woche habe ich bei meinen Studenten einen modifizierten Sticker entdeckt: „Du bist Deutschland“ stand dort. Ergänzt durch: „...aber nicht mehr lange“.

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