zu Robert Leichts Plädoyer für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union (DIE ZEIT)
Nach einer durchaus erfolgreichen Gratwanderung hat Klaus Kinkel
in Ankara den status quo der Beziehungen der EU zur Türkei
wieder einmal erfolgreich hergestellt. Irgendwann einmal kann
die Türkei Mitglied werden, zuvor aber müssen zahlreiche
Bedingungen erfüllt werden. Das war so, das ist so und das
wird wohl auch für absehbare Zeit so bleiben. Und es erspart
den Berufseuropäern eine Grunsatzdebatte darüber, was
denn die Europäische Union konstituiert.
Theo Sommer behauptet in der ZEIT schon mal, was die EU seiner Meinung nach nicht sei, nämlich ein Christen-Club. Aber was ist sie dann? Die Dauerbewerbung der Türkei, der unpopuläre Euro und die Osterweiterung drängen ebenso auf die Beantwortung dieser Frage wie die sogenannten globalen Herausforderungen.
Es ist letztlich die Frage nach der Identität des neuen Über
- Staates, an deren erfolgreicher Beantwortung die Akzeptanz all
dessen hängt, was sich seine Lenker ausdenken. Wer sich mit
dem Konstrukt der EU, so wie sie nun einmal ist, wenig identifiziert,
wird beispielsweise immer seine Probleme mit dem Euro haben -
Maastricht-Kriterien hin, mögliche persönliche Vorteile
her.
Was aber macht denn nun die EU aus, für die vor auf den Tag
genau vierzig Jahren mit den Römischen Verträgen der
Grundstein gelegt wurde? Anfangs wenig beachtet, fand der europäische
Gedanke bald eine breite Resonanz quer durch alle politischen
Lager und durch alle Teile der Bevölkerung. Wegfallende Grenzkontrollen
und Zollschranken waren dafür sicher wichtig. Entscheidend
war aber sicher die Tatsache, daß die neue Gemeinschaft
die Gesellschaften zusammenführte, die sich über Jahrhunderte
trotz blutiger Kriege in wechselnden Grenzen gemeinsam entwickelt
haben. Es ist die Geschichte des Abendlandes und der Christenheit.
Das verbindet uns Europäer und ohne, daß wir es beständig
begründen, formuliert es auch unsere Ansprüche an andere.
Das ist gut so. Allerdings darf es nicht den Blick dafür
verstellen, daß andere Kulturkreise andere Wege gegangen
sind und auch gehen. Peter der Große hat Rußland im
siebzehnten Jahrhundert auf den Weg nach Europa gebracht, Atatürk
die Türkei in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts.
Zu erwarten, daß diese Gesellschaften innerhalb kürzester
Zeit so aussehen wie die unsere, ist arrogant und töricht.
Nicht zuletzt würde es auch bedeuten, daß sie auf dem
Parforceritt zum gesetzten Ziel ihre eigene Identität verlieren
könnten, was jeder Form von fundamentalistischen Rückschlägen
den Weg bereiten würde. Überdies ginge aber auch viel
von dem verloren, was diese Gesellschaften zur Weltkultur beitragen.
Es ist daher verhängnisvoll, Europa durch Breiten- und Längengrade
zu definieren. Das sind keine Gründe, warum sich Staaten
zusammenschließen. Die Europäische Union i s t eine
Gemeinschaft in abendländischer und christlicher Tradition,
allerdings eben auch eine Gemeinschaft, die aus eben dieser Tradition
heraus Staat und Kirche getrennt, unveräußerliche Menschenrechte
definiert und Toleranz zum Prinzip erklärt hat. Das hat Jahrhunderte
gedauert. Dies z.B. von der Türkei in wenigen Jahren zu erwarten,
ist zumindest naiv. Grundlegende Vorbehalte für einen EU-Betritt
durch immer neue Forderungen zu kaschieren, ist unehrlich und
letztlich kontraporoduktiv. Sich generell um die Frage nach den
Wurzeln der Europäischen Union zu drücken wäre
verhängnisvoll - vor allem für uns.
April 1997